Leseproben

DAS LOTTCHEN
Der Menschenhaufen im Pastorhaus war durch Krieg und Zufall zusammengewürfelt worden. Von Hedwig, der Frau des Sparkassenangestellten, mit ihrem Jungenquartett über einen elegant gekleideten Professor mit seiner niemals jammernden, feingliedrigen Gattin und der taubstummen Tochter bis hin zur Ehefrau des SS-Sturmbannführers mit ihrer ekelhaft verwöhnten Lotte. Dieses Mädchen mit den täglich neu eingedrehten Schillerlocken war bei allen verachtet und verhaßt. Als freche Herausforderung wirkte es, wenn sie vor erschöpften und hohlwangigen Kindern ihr affiges Theater aufführte.
«Lottchen, willst du ein Eichen?»
«Nein.»
«Oder ein Zuckerstullchen?»
«Nein.»
«Na, was willst du denn?»
«Ich will Schokolade.»
Bald wurde diese Szene von Flüchtlingskindern bissig nachgeäfft.
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DIE FRAUEN UND IHRE ANGST
Dieser Frühling war mit seiner weichen Luft, dem wolkenlosen Himmel und einer alles durchdringenden Kraft der Sonne für alle ein Trostpflaster. Die Kinder saugten barfuß die fast sommerliche Wärme aus dem Feldsteinpflaster der Dorfstraße. Flüchtlingskinder erklärten Bauernkindern die Regeln von Stadtspielen. Erste Namen wurden ausgetauscht. Die winzige Volksschule geschlossen. Bauernkinder ließen Flüchtlingskinder von ihrer Butterstulle abbeißen.
Im Pastorhaus aber saßen die Erwachsenen und unterhielten sich darüber, wozu «der Russe» fähig war. Das Gehörte und Befürchtete verklebte zu einem grauenhaften Schreckbild. Für manche von ihnen sollte es Wirklichkeit werden. Frauen und Mädchen waren fast irre vor Angst, vergewaltigt zu werden. Die älteren Männer wußten, daß sie im Ernstfall hilflos sein würden.
«Du mußt dir Dreck ins Gesicht schmieren.»
«Ein Kopf tuch macht alt.»
«Schrei einfach Syphilis! Das verstehen die auch.»
«Bindet bloß eure Brüste mit einem Tuch flach.»
«Ich versteck mich im Stroh.»
«Oben auf der Dreschmaschine isses am sichersten.»
«Ich schütz mich mit meinen vier Jungs.»
«Ich sag: Hitler kaputt. Karascho. Das heißt: gut.»
So versuchten sie, sich gegenseitig Mut zu machen. In Wirklichkeit wußte jede der Verängstigten, daß sie allein sein würde, wenn sie einem Soldaten in die Hände fallen sollte, der von dem heißen Wunsch nach Vergeltung, Erniedrigung oder von bloßer Gier getrieben war.
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SANDBLATT
Eine Hälfte seines Gartens hatte der alte Lettau mit Tabak bepflanzt. Der sandig-lehmige Boden war dafür wie geschaffen. Die heiß begehrten Blätter wuchsen mit ihren zartrosa Blüten in schnurgerade gezogenen Reihen zu strammen Stauden heran. Roland, dem frühen Raucher, kam der Anbau in greifbarer Nähe sehr gelegen. Es fiel nicht auf, daß er sich seinen eigenen Bedarf an feinem Virginia aus Lettaus Plantage zusammenklaute.
«Das unterste Blatt, das liegt im Sand. Das heißt Sandblatt. Das ist das Beste vom Besten. Aber davon versteht ihr ja sowieso nix.»
Tagelang weichte er gedörrte Pflaumen ein, nahm die braune Pflaumenbrühe in den Mund und beprustete damit sein goldgelbes Diebesgut. Dann stapelte er sorgfältig Blatt auf Blatt und preßte sich einen dicken, gewichtigen Tabakkuchen zusammen. Der mußte nun auf dem Küchenschrank ziehen. Nach mehreren Tagen war dann alles reif.
«Fermentieren, das ist eine Wissenschaft für sich.»
Jetzt konnte er den Tabakkuchen mit scharfer Klinge schneiden, den Tabakkrüll genießerisch abriechen und sich einen Vorrat von Selbstgedrehten anlegen.
«Der Machorka, den die Russkis qualmen, da fallen ja die Fliegen tot von der Wand!»
Mit einem älteren Russen hatte er einmal Tabak getauscht. Der hatte davon einen tiefen Zug gemacht und Karascho gesagt.
«Das ist Virginiatabak, das ist Amerika!», plusterte er sich vor dem gegerbten Frontkämpfer auf.
«Das nix Amerika, das Drannsdorr!»
Der Soldat lachte breit.
Es konnte eigentlich nur eine Frage der Zeit sein, bis Mill und Jank selbst nach Virginia reisten. Natürlich entschieden sie sich für die allerhöchste Qualität Sandblatt. Für tagelange Fermentierungsprozesse fehlten ihnen sowohl Geduld als auch günstige Gelegenheiten. Jeder rollte ein ganzes Bündel sonnengereifter Tabakblätter in ein Zeitungsblatt «Völkischer Beobachter» und zündete sich seine Rolle an. Diese Virginiazigaretten glimmten nicht, sie brannten. Nur beim Ziehen sanken die Flammen kurz in sich zusammen. Jank wurde als Erstem schlecht und schwindelig. Kalter Schweiß zeigte sich schon nach dem zweiten Zug auf Mills Stirn. Sofort hatten beide das dringende Bedürfnis, in die Hocke zu gehen. Sie trugen nur ihre Sommerunterhosen, unten glockig offen. Gewischt wurde mit Blättern von wildem Rhabarber aus dem nahen Straßengraben, nachgewaschen unter dem Pumpenstrahl im Garten. So hundeelend hatten sie sich das letzte Mal nach dem Blaubeerwein in der Sedanstraße gefühlt.
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